Was ist Gestalt? Meine Antwort

Gestalttherapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren auf dem Boden  der humanistischen Psychologie. Der Behandlung von Symptomen und Störungen liegt ein positives Menschenbild zugrunde, das sich an der  Vorstellung vom persönlichem Wachstum orientiert. Menschen werden unterstützt, mit sich selbst und anderen aktiv neue Erfahrungen zu machen.

In der Gestalt stehen die  Wahrnehmung des eigenen Körpers und die Gefühle im Hier und Jetzt im Vordergrund. Weitere Schlüsselbegriffe dieser therapeutischen Arbeit sind die Schulung der Aufmerksamkeit und die Praxis der inneren Achtsamkeit. In der Gestalt ist das `Wie` interessant. Es geht weniger darum zu analysieren und zu interpretieren, warum wir uns in Situationen so oder so verhalten und fühlen. Es geht darum wahrzunehmen, wie der Kontakt mit uns und den Mitmenschen für uns ist, und wie wir Sachen machen. Und schließlich geht es darum dafür Verantwortung zu übernehmen.

Schulung der Aufmerksamkeit
In der therapeutischen Begleitung schauen wir auf den den Leib und wie wir ihn bewohnen, auf die Körperhaltungen und was sie ausdrücken, auf die Stimme und was sie komuniziert, auf die Empfindungen während wir lachen oder weinen, reden oder schweigen und wenden uns den dabei auftauchenden Gefühlen zu: Angst, Unbehagen, Mut oder  Freude, Wut oder Scham, Zuneigung, Zärtlichkeit und vieles andere mehr. Die Achtsamkeit lässt uns Seiten an uns kennen lernen, die uns bislang unbekannt waren, die wir unterdrückt oder verdrängt haben, die bislang mehr im Hintergrund waren oder nur  im Untergrund lebten. Jetzt kommen sie in den Vordergrund mit allen Konsequenzen. Oft  gibt es ein Aufatmen oder Staunen, „Ach, so! Das ist ja auch noch da!“ ,“Ach deshalb…..“. Auftauchende Gefühle und Erinnerungen weisen den Weg zu Unerledigtem, das bisher Vieles blockiert hat. Im therapeutischen Prozess gehen wir zu unerledigten Situationen zurück und versuchen offene Gestalten zu schließen.

Kontakt
Kontakt ist der zentrale Begriff der Gestalttherapie. Fritz Perls geht von der „Ähnlichkeit zwischen den Phasen unserer Nahrungsaufnahme und unserer geistigen Assimilation der Welt“ aus (in:“Das Ich, der Hunger und die Aggression“, 1944, S. 152). Wir verspüren Hunger, wählen aus, zerkauen die Nahrung, schucken und verdauen sie im Magen. Ihre Energie wird vom Organismus assimiliert und es fließt neue Lebensenergie. Störungen im Kontaktzyklus führen im psychischen Bereich zu Behinderungen und Problemen. Jeder von uns ist mehr oder weniger neurotisch. Deshalb untersucht die Gestalttherapie die individuelle Kontaktlandschaft und die wirksamen Introjekte.

Introjekte
Verschluckte Normen, Werte oder  Einstellungen bilden „Introjekte“, die uns leiten und für Kontakthindernisse verantwortlich sind. Introjekte (lat.“intro“ = hinein und „iacere“ = werfen) sind z.B: ein unverstandenen Lehrsatz, der ungeprüft nachgebetet wird; eine aufgezwungenen Regel, die widerstandslos übernommen wird;  eine Botschaft von Eltern oder anderen Autoritäten, die als Wahrheit der eigenen Person akzeptiert wird. Sie liegen oft schwer im Magen, nehmen die Luft zum Atmen und behindern die Entfaltung der Persönlichkeit im privaten oder beruflichen Kontext. Bei der Introjektarbeit werden diese Introjekte daraufhin geprüft, ob sie zu einem passen und inwieweit sie noch dienlich sind.

Verantwortung
Gestalttherapeuten machen die Erfahrung, dass auch bei noch so großer Sehnsucht nach mehr innerer und äußerer Freiheit die Widerstände oft groß sind, Schritte in diese Richtung zu gehen. Deshalb hat die Arbeit mit den Widerständen, weil sie eine nicht zu unterschätzende Aufgabe im Gesamtorganismus haben, hohe Priorität. Es gilt die  Maxime: „dont push the river“ und „trust the flow“.  Nur wenn sich alle inneren Teile, die verletzbaren und die verletzten eingeschlossen, sicher fühlen, werden sie die Arbeit nicht blockieren. Sie müssen Vertrauen gewinnen, dass wir für sie gut sorgen, damit sie Widerstände lockeren und Freiheit gewähren etwas Neues zu erproben. Will jemand glücklich  werden, braucht sein inneres Kind einen Verbündeten.

Technik der Gestalttherapie
Die Gestalt ist für ihr kreatives Arbeiten bekannt. Je nach Vorliebe und Expertise bringt jeder Therapeut eine eigene methodischen Vielfalt zum Einsatz. Empathie und Wertschätzung für den Klienten und seinen Prozess, Erfahrung im Umgang mit unterschiedlichen Techniken, die Eingebung des Augenblicks und das gemeinsame Erkunden eines kreativen Einfalls führen machen Gestaltexperimente möglich. Sie potenzieren das spontan Erleben und die Bandbreite möglichen Verhaltens. Die Erlebnisvielfalt öffnet Türen zu weniger bekannten Seiten der Persönlichkeit. Probehandeln in diesem Setting erleichtert neues Verhaltens im Alltag. Fritz Perls war vom Theater und vom Psychodrama (Jacob Moreno) begeistert. Er sah eine Parallele zwischen Szenen eines Schauspiels und psychischen Vorgängen. Die Gestalttherapie arbeitet mit dem inneren Dialog und der Technik des leeren Stuhls. Die Arbeit mit dem inneren Familiensystem hat eine Nähe zur Systemischen Familientherapie.

Kritisches Potential
Fritz Perls ( 1893-1970), Kind eine jüdischen Kaufmannsfamilie, erlebte den die Sinnlosigkeit des ersten Weltkriegs, wurde Psychiater und durchlief eine psychoanalytische Ausbildung. Mit seiner Frau Lore begegnete er Martin Buber, Max Scheler und Paul Tillich. Die  Flucht vor dem Nationalsozialismus (1934) führte beide über Südafrika, wo sie ein psychoanalytisches Institut gründeten, nach New York (1946), wo das erste Gestaltgrundlagenwerk (1951) erschien. Das Paar lebte sich mehr und mehr auseinander. Fritz Perls findet 1963 eine neue Heimat in Esalen, Kalifornien. Dort lebt er, was er lehrt: ein freies, selbstbestimmtes Leben das für nicht wenige provokativ und anstößig ist. Er bleibt sein Leben lang Gesellschaft, Politik und Religion gegenüber kritisch. Gestalt lehrt „Ich“ statt „Man“ zu sagen. „Nein“ statt „Eigentlich“ und „Vielleicht“ und „Ich will“  statt „Du sollst“.

Das Gestaltgebet
verdanken wir auch Fritz Perls:

„Ich bin nicht auf dieser Welt, um Deinen Erwartungen zu entsprechen –

und Du bist nicht auf dieser Welt, um meinen Erwartungen zu entsprechen.

ICH BIN ich und DU BIST du –

und wenn wir uns zufällig treffen und finden, dann ist das schön,

wenn nicht, dann ist auch das gut so.“

Gestaltherapie ist für mich ein Befreiungsweg  zu frohem Sein und verantwortlichem Handeln.

Eine Korrektur für den Egozentrismus von Fritz Perls („Am wohlsten fühle ich mich als Prima Donna“) bietet mir Albert Schweizer´s Maxime: „Ich bin Leben. das leben will, in der Mitte von Leben , das auch leben will“.

 

 

 

 

Das was in der Therapie heilt, sind neue Erfahrungen damit und nicht Worte, die Erkenntnis verheißen.